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Nicht nur Kies

Geschiebe, Lebensgrundlage intakter Gewässer

Geschiebe besteht aus Kies und Steinen, die in einem Bach oder Fluss bei Hochwasser rollend, gleitend oder springend über die Gewässersohle transportiert werden. Bei Niedrigwasser ist Geschiebe als Kiesablagerungen sichtbar. Es kann in Form grosser Kiesbänke oder kleiner Haufen hinter Hindernissen oder über die ganze Sohle verteilt abgelagert sein. Grobe und feine Kieskörner werden in unterschiedlichen Zonen abgelagert, das heisst, das Substrat an der Sohlenoberfläche ist sehr unterschiedlich zusammengesetzt. Die Mobilisierung und der Weitertransport des Geschiebes gewährleisten, dass sich die Kiesablagerungen immer wieder erneuern. Frische Kiesablagerungen zeigen eine saubere Oberfläche, sind locker gelagert und gut durchlässig.

Bestandteile des Geschiebes

Geschiebe wird durch Verwitterung und Erosion im Einzugsgebiet aufbereitet und in das Gewässernetz eingetragen. Die Zufuhr von Kies und Steinen ist von zentraler Bedeutung für den regelmässigen Nachschub von Geschiebe.

Die Gewässersohle ist häufig gröber als das Geschiebe. Damit die grobe Sohle in Bewegung kommt, sind besonders grosse Hochwasserabflüsse erforderlich.

Neben dem Geschiebe werden in der fliessenden Welle Schwebstoffe transportiert. Diese bestehen aus Sand und feineren Partikeln wie Silt und Ton. Infiltriert Wasser in die Gewässersohle, so lagern sich diese Partikel in den Zwischenräumen der Kiesablagerungen ab. Dies führt zu einer Verdichtung und die Kiesablagerungen werden weniger gut durchströmt. Dieser Prozess wird als innere Kolmation der Sohle bezeichnet. Lagern sich die Schwebstoffe auf der Sohle ab, so spricht man von äusserer Kolmation. Bei Geschiebeablagerungen, die seit geraumer Zeit nicht mehr mobilisiert wurden, ist die Oberfläche verkrustet (es bilden sich Kalkablagerungen oder ein biologischer Film aus Algen) und die Zwischenräume sind mit Feinpartikeln verfüllt.

Frische Geschiebeablagerungen (links) und kolmatierte Geschiebeablagerungen (Mitte). Das Bild rechts zeigt eine grobe und abgepflästerte Sohle (Deckschicht).

Bedeutung des Geschiebes

Bei den meisten Schweizer Fliessgewässern besteht die Sohle aus Kies und Steinen sowie im Gebirge zusätzlich aus Blöcken. Diese Gewässer transportieren bei Hochwasser Geschiebe. Daneben gibt es in flachen Talebenen einzelne Gewässer, deren Sohle aus Sand und feineren Partikeln besteht. Diese Gewässer bieten einen anderen Lebensraum und sind nicht Gegenstand des vorliegenden Artikels.

Die Geschiebeführung bestimmt das Erscheinungsbild eines Gewässers. Stark Geschiebe führende Gewässer sind verzweigt und weisen grosse Kiesbänke und Kiesinseln auf. Der Auenwald grenzt seitlich an das Gewässer an. Gewässer mit einer mittleren Geschiebeführung zeigen neben uferbegleitenden Kiesbänken oft bewachsene Inseln. Gewässer mit geringer Geschiebeführung mäandrieren und weisen entlang der Gleithänge schmale Kiesbänke auf.

Kiesablagerungen bilden die Lebensgrundlage für eine Vielzahl von im Wasser lebenden Tieren. Insektenlarven leben auf der Sohle oder in den Spalten zwischen den Steinen. Viele Fischarten wie die Forelle, die Äsche oder die Nase benötigen lockere Kiesablagerungen, um darin oder darauf ihren Laich abzulegen. Auf trockenen Kiesbänken leben Käfer, Schrecken, und der Flussregenpfeiffer baut sein Nest in einer Mulde zwischen den Steinen. Auf Kiesbänken gedeiht Pioniervegetation, die sich zuerst zur Weichholzaue und später zur Hartholzaue entwickelt. Damit sind frische Kiesablagerungen eine zentrale und nicht ersetzbare Lebensgrundlage für die meisten an Fliessgewässern vorkommenden Tier- und Pflanzenarten. Auch von Erholungssuchenden werden frische, saubere Kiesablagerungen als Rastplatz gegenüber groben, verkrusteten und ausgeräumten Uferbereichen bevorzugt.

Lockere und gut durchströmte Kiesablagerungen verfügen über eine grosse Oberfläche, welche das Wasser entsprechend einem Kiesfilter reinigt. Dadurch wird die selbstreinigende Wirkung des Gewässers erhöht und die Wasserqualität in Fliessrichtung verbessert.

Insgesamt hat der Geschiebehaushalt eines Gewässers eine zentrale Bedeutung. Damit ein Gewässer als natürlich oder naturnah bezeichnet werden kann, muss (1) ausreichend Raum vorhanden sein, (2) ein naturnahes Abflussregime und (3) ein naturnaher Geschiebehaushalt gewährleistet sowie (4) die Wasserqualität gut sein. Ist einer dieser Faktoren wesentlich verändert, so bleibt der Lebensraum des Gewässers beeinträchtigt.

Geschieberückhalt und Kiesentnahmen

Der Geschiebehaushalt vieler Schweizer Fliessgewässer ist stark beeinträchtigt. Dabei wird diesen Gewässern durch Anlagen wie Geschiebesammler, Wasserkraftwerke oder kommerzielle Kiesentnahmen Geschiebe entzogen.

Transportiert ein Gewässer weniger Geschiebe, so verändert sich dessen Morphologie. Kiesbänke werden abgetragen und an der Sohle verbleiben zunehmend nur noch die grössten Steine und Blöcke. Dabei kann es auch zu einer Eintiefung und Erosion der Gewässersohle kommen. Gleichzeitig wächst das Gewässer seitlich ein und es wird schmaler. Die Sohle wird grob, abgepflästert und es bestehen kaum noch lockere Kiesablagerungen. Die Poren zwischen und unter den Steinen werden mit Feinsedimenten gefüllt, die Sohle verdichtet sich und wird weniger durchlässig [vgl. Bild 1]. Damit verändern sich der Lebensraum und das Landschaftsbild grundlegend. Fische finden kein geeignetes Laichsubstrat und Insektenlarven können sich nicht mehr in den verdichteten Porenraum zurückziehen. Es fehlen geeignete Kiesflächen für Pioniervegetation und das Aufkommen einer Weichholzaue, wodurch auch deren Bewohner keinen geeigneten Lebensraum mehr finden. Durch die Abdichtung und Kolmation der Flusssohle wird zudem weniger Grundwasser neu gebildet.

Beispiel Aare bei Brugg

Die Aare zeigte im natürlichen Zustand zwischen Wildegg und Brugg einen verzweigten Lauf mit grossen, bewachsenen Inseln [vgl. Bild 2]. Mit der Inbetriebnahme des Ausleitkraftwerks Wildegg- Brugg im Jahre 1953 wurde der Aare viel Wasser entzogen, wodurch sie sich in der Restwasserstrecke zu einem kleineren Gewässer mit geringerer Breite entwickelte. Die Morphologie entsprach aber immer noch einem verzweigten Gerinne mit grossen Kiesbänken. Nach dem Bau des Geschiebesammlers an der Mündung der Emme und weiteren Kiesentnahmen wurde die mittlere Geschiebeführung von ca. 11 000 m3/Jahr auf rund 1000 m3/Jahr reduziert. Als Folge davon wurden die Kiesbänke erodiert und das Hauptgerinne hat sich eingetieft. Die Gewässersohle hat sich vergröbert und ist kolmatiert. Die Seitengerinne sind verlandet und zugewachsen. Dadurch wurde der Lebensraum wesentlich beeinträchtigt und das Landschaftsbild hat sich stark verändert.

Aare zwischen Schinznach und Brugg um 1840 mit verzweigtem Lauf und Inseln (Michaelis-Karte)
Aare beim Wildischachen vor Brugg mit Kiesbänken 1969
Aare beim Wildischachenvor Brugg mit eingewachsenem Gerinne ohne Kiesbänke 2012

Massnahmen zur Sanierung des Geschiebehaushalts

Die Bedeutung des Geschiebehaushalts wurde durch den Gesetzgeber erkannt. Art. 43a des 2011 revidierten Gewässerschutzgesetzes besagt, dass der Geschiebehaushalt eines Gewässers nicht so verändert werden darf, dass die einheimischen Tiere und Pflanzen, deren Lebensräume, der Grundwasserhaushalt und der Hochwasserschutz wesentlich beeinträchtigt werden.

Bei der Planung von Massnahmen zur Sanierung des Geschiebehaushalts ist sicherzustellen, dass mit deren Umsetzung die Morphologie und die morphologische Dynamik verglichen mit dem natürlichen Zustand nicht nachteilig verändert werden (Art. 42a, Gewässerschutzverordnung). Dies bedeutet beispielsweise, dass ein ursprünglich verzweigtes Gewässer nach Sanierung des Geschiebehaushalts wieder einen verzweigten Lauf aufweisen muss (dies unter Annahme ansonsten unbeeinflusster Randbedingungen wie Gewässerraum und Abflussregime). Ebenso sollen die Kiesbänke eine vergleichbare Grösse sowie eine vergleichbare Zusammensetzung und Lagerung des Substrats aufweisen.

Auch bei Hochwasserschutzprojekten muss der Geschiebehaushalt erhalten oder verbessert werden. Hochwasserschutzprojekte dürfen nicht dazu führen, dass der Geschiebehaushalt negativ verändert und damit der Lebensraum des Gewässers beeinträchtigt wird. Projekte, bei welchen das Gewässer zwar verbreitert wird, gleichzeitig aber viel Kies entnommen werden soll, damit die Gewässersohle abgesenkt werden kann oder auf einer tiefen Lage verbleibt, sind nicht ausgewogen und erfüllen die gesetzlichen Anforderungen in der Regel nicht. Solche Projekte versprechen aufgrund der Verbreiterung des Gewässers eine Aufwertung des Lebensraums, welche sich aber wegen fehlender Geschiebedynamik nicht einstellen wird.

Hochwasserschutz- und Revitalisierungsprojekte erfordern Lösungen, mit welchen die Anforderungen an Raum, Abfluss- und Geschieberegime gleichermassen und ausgewogen berücksichtigt werden. Nur unter diesen Bedingungen werden sich Fliessgewässer entwickeln, welche den Anspruch an funktionsfähige Lebensräume auch erfüllen können.

(Artikel übernommen aus: aqua viva #2/2017 - Autor: Ueli Schälchli, Flussbau AG)